Gravitation und Chladek®-Sturz

von Julia Wallner

Übersicht Gliederung

Einleitung
1. Rosalia Chladek: Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin
2. Chladek®-System
2.1. Entstehung des Chladek®-Systems
2.2. Einblick in die Terminologie des Chladek®-Systems
2.3. Methodische Prinzipien der Körperbildung bei Chladek®
2.4. Bewegungsgesetzmäßigkeiten des Chladek®-Systems
2.5. Eine technische Anleitung zum Sturz „Doppelseitig unterstützte zentrale Lösung bis zum Sturz“
2.6. Gehen und Fallen
Aussicht: Einflüsse des Chladek®-Systems bis heute
Quellen- und Literaturangabe

Einleitung
Orientiert am „Schwerkraft“ Seminar-Thema „Fallen“ beschäftige ich mich mit „Gravitation und Sturz“ am Beispiel der Chladeksche Körperbildung[1]. Der „Sturz“ im Chladek®-System steht im Zentrum meiner Untersuchung. Als ehemalige Studentin im Chladek®-System berichte ich von meinen Erfahrungen während des Studiums für „Pädagogik für modernen Tanz“ – nach Rosalia Chladek am Konservatorium Wien (2005-2009). Die persönlichen Beobachtungen sind kursiv geschrieben oder entsprechend gekennzeichnet und ergänzen die allgemeine Beschreibung des Chladek®-Systems. Folgender Hinweis erscheint mir in diesem Zusammenhang besonders interessant. Die Autoren des Buches: Tänzerische KörperbildungLehrweise Rosalia Chladek raten „von einer rein theoretischen Auseinandersetzung ohne praktische Erfahrungen mit der Arbeitsweise dringend“[2] ab und begründen dies durch den erfahrungsorientierten Ansatz der Lehrweise Chladek®.[3]

1. Rosalia Chladek: Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin

Abb2.„Sarabande“ 1925 (A. Colrelli), Quelle: IGRC

Abb.1 Rosalia Chladek im Sprung, Quelle: IGRC

Rosalia Chladek gilt als eine der bedeutendsten Wegbereiterinnen des Freien Tanzes im 20. Jahrhundert in Europa.[4] Ihre Tanzauffassung ist geprägt vom generellen Motto der Ausdruckstanzbewegung: „Innerer Bewegtheit äußere Gestalt zu verleihen“, so Artus und Paulissen-Kaspar in ihrer Dokumentation der Lehrweise Chladek®, welche in Zusammenarbeit mit Rosalia Chladek zu ihrem 90. Geburtstag im Mai 1995 entsteht.[5]

Abb.4.Tanz zur Flöte 1930, Quelle: IGRC

Abb.3.Studie 1933, Quelle:: IGRC

Biographische Daten [6]

Abb.5.„Genesis“ 1952 aus: „Symphonie Wien“, Quelle: IGRC

Abb.6.Medea 1956, Quelle: IGRC

Rosalia Chladek (1905 -1995)
1905: geboren im österreichischen Brünn

1921-1924: Studium an der Schule für Rhythmus, Musik und Köperbildung Hellerau (Dresden), begründet von Èmile Jaques-Dalcroze; Abschluss mit Lehrdiplom für Körperbildung

1922: Mitglied der Tanzgruppe Valeria Kratina der Schule Hellerau

1924: Debüt als Solotänzerin in Dresden. Erstmalige Teilnahme bei den Festspielen in Syrakus

1924-1928: Lehrkaft an der Schule Hellerau (Übersiedelung der Schule 1925 nach Österreich: Schule Hellerau-Laxenburg)

1928-1930: Leiterin der Ausbildungsstätte für Gymnastik und Tanz am Konservatorium Basel.
Beginn der Entwicklung eines eigenen Systems der modernen tänzerischen Erziehung.

1930: Leiterin der gymnastischen und tänzerischen Ausbildung an der Schule Hellerau-Laxenburg

1932: Zweiter Preis beim internationalen Choreographiewettbewerb in Paris für Les Contrastes

1940: Erste Opernregie an der Wiener Staatsoper. Verpflichtung als Choreographin und Solotänzerin an die Deutsche Tanzbühne, Berlin. Sie tanzt in ihren eigenen Choreographien und gemeinsam mit Harald Kreutzberg in Valeria Kratinas Till Eulenspiegels lustige Streiche

1940/41: Leiterin der modernen Tanzausbildung an den Deutschen Meisterstätten für Tanz in Berlin

1942-1952: Leiterin der Ausbildungsstätte Tanz für Bühne und Lehrfach am Konservatorium Wien.

1944-1963: Choreographische Tätigkeiten am Wiener Burgtheater, am Wiener Akademietheater und am Wiener Volkstheater

1947: Choreographische Gestaltung von Hugo von Hofmannsthals Jedermann bei den Salzburger Festspielen.

Ab 1948: Pädagogische Tätigkeit in Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden und der Schweiz

1950: Gastspiel in New York anlässlich der Teilnahme am International Arts Program

1951-1953: Auftritte der Tanzgruppe Rosalia Chladek in Wien, Italien, Deutschland und der Schweiz

1952-1970: Vorstand der Abteilung für künstlerischen Tanz an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien

1960: Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I.Klasse in Österreich

1962: Leiterin des Hochschullehrgangs „Moderne tänzerische Erziehung und Tanzpädagogik – System Rosalia Chladek“ in Wien

1971: Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien

1972: Gründung der heute in fünf europäischen Ländern vertretenen Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek (IGRC). Einführung eines berufsbegleitenden Studiums, das die Ausbildung in den Grundlagen des Systems bis zur Erlangung eines Zertifikats beinhaltet.

1991: Premio Porselli (Mailand). Ehrenmitglied der Deutschen Akademie des Tanzes. Membre d`Honneur der F.I.E.R. (Fédération Internationale des enseignants de Rythmique) in Genf.

1993: Verdienstmedaille in Gold der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien

1995: Rosalia Chladek stirbt am 03.Juli in Wien

2. Chladek®-System

Rosalia Chladek erforscht seit den 1930er Jahren Ursachen und Zusammenhänge von Bewegung und entwickelt eine international anerkannte Tanztechnik: Das Chladek®-System – Gesetzmäßige Bewegung als Grundlage tänzerischer Erziehung. Die tänzerische Erziehung Rosalia Chladeks ist auf den künstlerischen Tanz ausgerichtet und zielt darauf ab, den eigenen Körper zu einem „vollwertigen Tanzinstrument“ herauszubilden und sich zu einer „schöpferischen Persönlichkeit“ zu entwickeln. Rosalia Chladek will den „tänzerischen Menschen in seiner leibseelischen Totalität“ erfassen, seine Erlebnisfähigkeit steigern und ihn auf Grund seiner wachsenden Bewusstheit jene Mittel ausfindig machen zu lassen, die ihm erlauben, mit der Sprache des bewegten Körpers seiner inneren Bewegtheit äußere Gestalt zu verleihen. (Vgl. Chladek 1964, 93)[7]

2.1. Entstehung des Chladek®-Systems
Rosalia Chladek entwickelt ihre Tanztechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der sich viele Solo-Tänzerinnen von der Ästhetik der Schwerelosigkeit des Klassischen Balletts abwenden, um ihren eigenen Ausdruckswillen zu folgen. Sie entdecken die Attraktivität des Bodens und beginnen zu fallen.[8] Eine Tanztechnik jenseits des Klassischen Balletts fehlt jedoch zu dieser Zeit. Chladek sucht daher nach einer konkreten Methode, um den Körper mit all seinen Möglichkeiten als Ausdrucksinstrument zu nutzen. In diesem Zusammenhang sei nur kurz auf Einflüsse auf das Schaffen von Rosalia Chladek hingewiesen: Jaques-Dalcroze und seine rhythmische Gymnastik, die als wesentliche Voraussetzung für die künstlerische Wiedergeburt des Tanzes gilt.[9] Rosalia Chladek übernimmt in ihrem System auch den Grundgedanken von Bess Mesendieck, Bewegung von den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Körpers her zu entwickeln.[10]

2.2. Terminologie Chladek®-System[11]
Rosalia Chladek hat eine Systematisierung mit einer klaren Terminologie geschaffen, die bis heute gelehrt wird. Um einen Einblick in die eigenständige Terminologie zu geben nenne ich einige Begriffe. Zur Veranschaulichung setze ich diese mit der Terminologie des Klassischen Balletts in Beziehung. Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass folgende Bezeichnungen in ihrer technischen Ausführung jedoch nicht miteinander gleichzusetzen sind.

„Halbe Schwerpunktsenkung“ vgl. „Demiplié“
„Ganze Schwerpunktsenkung“ vgl. „Grandplié“
„Erhebung“ vgl. „relève“
„Beingeste“ vgl. „tendu
Die „doppelseitig unterstützte zentrale Lösung“ soll die Komplexität der Chladekschen Körperbildung andeuten und wird im Kapitel 2.5. näher erläutert. Hierfür gibt es keinen vergleichbaren Terminus.

2.3. Methodische Prinzipien der Körperbildung bei Chladek®    

Das Wesen des Tanzes ist Bewegung und nicht Bildwirkung, so Rosalia Chladek[12].

Prinzip der verbalen Bewegungsanweisung
Die Ursache einer Bewegung und deren Auswirkung sind selbstständig zu erforschen. Ausgehend von der Annahme, dass die Teilnehmenden die Aufgaben erst lösen können, wenn sie die verbalen Anweisungen verstanden haben, fördern diese eine intensive gedankliche Bewusstseinsbildung über den Bewegungsablauf. Die verbalen Bewegungsanweisungen zielen also auf ein steigendes Bewegungsbewusstsein ab, das als Grundlage zur Selbstkorrektur dient und das körperliche Bewegungserleben sensibilisiert. Rosalia Chladek geht davon aus, dass auch psychische Prozesse auf der Ebene der inneren Bewegtheit eines Individuums durch die verbalen Bewegungsanweisungen nachhaltig beeinflusst werden. Die wechselseitige Beeinflussung von selbstverantwortlicher und eigenständiger Bewegungsausführung und Wahrnehmungs-,Denk- und Gefühlsprozessen lässt auf eine Entwicklung des Einzelnen in seiner Gesamtpersönlichkeit schließen. Ein Vorzeigen und Nachahmen von Lehrenden und Studierenden gibt es im Übungsprozess bei Chladek nicht.[13]
Die Selbst- und Fremdbeobachtung der Teilnehmenden ereignet sich auf der Ebene der inneren Bewegtheit und führt zu einer Wahrnehmungsdifferenzierung. Damit sich bei den Teilnehmenden eine Erweiterung und Vertiefung der sinnlichen Wahrnehmung ereignen kann, ist eine häufige Bewegungswiederholung im Sinne einer beständig wachsenden Sensibilität Voraussetzung.[14]

2.4. Bewegungsgesetzmäßigkeiten im Chladek®-System

Jede menschliche Bewegung kann als Veränderung des Körpers durch die Einwirkung von Kraft (Dynamik) bezogen auf die Dimensionen Zeit und Raum beschrieben werden. Die Komponenten
Körperlichkeit / Körperverhalten
Bewegungsdynamik
Zeitstruktur
Raumbezogenheit
stellen eine Struktur dar, um die Gesetzmäßigkeiten eines Bewegungssystems übersichtlich darstellen zu können.(Vlg. Tänzerische Körperbildung, S.153.)

Der Schwerpunkt in der Körperbildung nach der Lehrweise Chladek richtet sich auf die Prinzipien der Körperlichkeit und der Bewegungsdynamik. Im weiteren Verlauf konzentriere ich mich daher ausschließlich auf diese Bereiche und möchte auf folgende Aussage von Rosalia Chladek[15] näher eingehen.

Der Mensch ist der Schwerkraft ausgesetzt und er besitzt Eigenenergie.

Dieser Gedanke erscheint elementar für das Verständnis von Bewegung. Chladek geht in ihrem Bewegungssystem von zwei grundlegenden Parametern aus: Zum einen von den physikalischen Gesetzmäßigkeiten Schwerkraft, Hebelwirkung, Schwungkraft, Zentrifugalkraft (Fliehkraft), Zentripetalkraft (Radialkraft).[16]Zum anderen begründen sich alle Bewegungen aus anatomischen und physiologischen Gesetzmäßigkeiten, denen der menschliche Körper aufgrund seiner gattungsmäßigen Entwicklung unterliegt. Alle Haltungen und Bewegungen in der Körperbildung nach Chladek werden also aus dem Prinzip der anatomisch-physiologischen Folgerichtigkeit begründet. Dabei wird zwischen dem passiven Bewegungsapparat (Aufbau des menschlichen Knochengerüstes einschließlich der Gelenkfunktionen) und dem aktiven Bewegungsapparat (Beschaffenheit und Ausprägung der Muskulatur) unterschieden.[17]

Rückenlage

Abbildung 7 : Aktive und passive Körperhaltung in der Rückenlage


Der Mensch im Kraftfeld von Schwerkraft und eigener Energie.
Dieser Gedanke weist auf ein weiteres Prinzip in der Chladekschen Körperbildung hin: Die Spannungsdifferenzierung respektive Spannungsveränderung im Körper zwischen äußeren und inneren Kraftfeldern. Sie ist ein Wechselspiel von Schwerkraft und Eigenenergie, einem Spannungsfeld, dem der Körper permanent ausgesetzt ist. Die Bewusstwerdung dieses Wechselspiels der Kräfte von Innen- und Außenreizen bildet die Grundlage der Chladekschen Körperbildung. Dies geschieht über das Erlebnis von aktivem und passivem Körperverhalten.[18]

Körperverhalten
Rosalia Chladek[19] beobachtet drei Grundformen von körperlichen Verhaltensweisen:

  1. eine Ausgeglichene, bei der sich Schwerkraft und eigene Energie die Waage halten (Normalspannung-Haltung)
  2. eine Gesteigerte, durch Energiezunahme, wodurch die Wirkung der Schwerkraft abnimmt (Aktivierung) und der Körper (scheinbar Anm.Wallner) leichter wird und zu steigen beginnt.
  3. eine Verminderte, durch Energieabnahme, wodurch die Wirkung der Schwerkraft zunimmt („Lösung“[20]vgl. 2.5.) und der Körper (scheinbar Anm.Wallner) schwer wird und zu sinken beginnt.

Die Spannungsänderung kann sich auf den gesamten Körper oder auf einzelne seiner Teile erstrecken. Chladek unterscheidet zwischen einer „totalen“ oder einer „partiellen Spannungsänderung“.[21]

Über das Verhältnis von Schwerkraft und eigener Energie sowie der Bedeutung der Verlagerung des Körpergewichts schreibt Chladek[22]:
Der Kraftaufwand respektive die Größe der Energie (Eigenenergie: Anm.Wallner) bestimmt den Umfang der Bewegung. Der Dauer der Energie entspricht eine zeitlich kurze oder lange, gleichbleibende oder veränderliche Bewegung. Die Richtung der Energie bestimmt die gerade oder krummlinige Bewegung im Körper und im Raum. Die Verlagerungsrichtung des Schwerpunktes bestimmt den weiteren Bewegungsverlauf im Raum. Die wechselnde Seitverlagerung des Körpergewichtes von einem Bein auf das andere bewirkt die Gangbewegung am Ort. Eine fortgesetzte zu-oder abnehmende Vorverlagerung des Körpergewichtes erwirkt die Fortbewegung mit zu-oder abnehmender Geschwindigkeit (von Gang bis Lauf). Aus dem jeweiligen Körperverhalten und dem Einfluss der Verlagerung des Schwerpunktes ensteht ein vielfältig differenzierter Bewegungsverlauf innerhalb des Körpers und des Raumes.[23]

Das Prinzip der Bewegungsökonomie spielt für den Bewegungsverlauf eine wichtige Rolle: Ein Minimum an Kraftaufwand führt zu einem folgerichtigen Bewegungsverlauf. Die Eliminierung von nicht-erforderlicher Kraft wird durch eine bewusste „Nutzung der Schwerkraft“ erreicht.[24]

Es gilt also den Ansatz einer Bewegung zu betrachten, wobei Größe, Dauer und Richtung der Energie die Verlagerung des Körpergewichts und somit die Bewegung bestimmen. In der Praxis wird das eben genannte KRAFT – ZEIT – RAUM Verhältnis nach Chladek® anhand folgender Fragestellungen untersucht:

  1. Wo ist der Ansatz für eine Bewegung? Ein Bewegungsansatz hat seinen Ursprung entweder im gesamten Körper oder in einzelnen Körperteilen. Chladek spricht von dem „Angriffspunkt der Energie“ und unterscheidet zwischen„totaler“ und „partieller“, „zentraler“ und „peripherer“, „doppelseitiger“ und „einseitiger“, „gleichzeitiger“ und „auslaufender“ Bewegung.[25]
  2. Größe, Dauer und Richtung des Bewegungsimpulses? Hier wird nach der räumlichen und zeitlichen Situation gefragt.
  3. Der dritte Aspekt untersucht das Körperverhalten im Verhältnis zur Anziehungskraft der Erde. Wie reagiere ich auf den Bewegungsimpuls? Wie ist mein Körperverhalten? Wo stehe ich im Kraftfeld? Und dadurch folgernd: Wie ist die Verlagerung des Körpergewichts? [26]
Einseitige Spannungsabnahme Chladek

Abbildung 8 : Beispiel für eine einseitige Spannungsabnahme nach Chladek®

In diesem Zusammenhang halte ich eine Zusammenfassung sowie eine weitere Differenzierung in Bezug auf das Körperverhalten sinnvoll. Eine neutrale Situation ist gegeben, wenn beide Kräfte (Schwerkraft und Eigenenergie) von gleicher Größe und in entgegengesetzter Richtung wirksam sind: „Normalspannung-Haltung“. Dominiert die eigene Energie spricht Chladek von „aktivem Körperverhalten“, dominiert die Schwerkraft, von „passivem Körperverhalten“. Zudem differenziert Chladek zwischen einem gleichförmigen und einem labilen Körperverhalten.

Im Chladek®-System gibt es demnach fünf „Körperverhalten“ (KV):

  1. normales KV respektive „tänzerische Grundspannung“
  2. aktives KV (Erhebung; Endpunkt = höchste Spannung = Sprung)
  3. passives KV (totale Passivität = Bodenlage; Endpunkt = ganzkörperliche Entspannung)
  4. durchlässiges KV (labil und dadurch beeinflussbar)
  5. fixiertes KV (stabil und gleichförmig, nicht beeinflussbar)

Je nach „Angriffspunkt der Energie“ fällt die Reaktion ganzkörperlich oder teilkörperlich aus: „totale“ oder „partielle“ Bewegung.[27]

Spannungsdifferenzierung: Spannungsskala
Auf einer imaginären Spannungsskala wären die beiden Endpunkte zum einen die ganzkörperliche Entspannung „totale Passivität“ in der Bodenlage und zum anderen die höchste Spannung im Sprung: „totale Aktivität“. Dazwischen gibt es viele Abstufungen in der Wechselwirkung von Spannung und Entspannung im Körper. Die „Erhebung“ beispielsweise ist eine Vorstufe der totalen Spannungszunahme, die im Sprung ihr Maximum erreicht. Ist einer der beiden Endpole „totale Aktivität“ oder „totale Passivität“ erreicht, mündet der jeweilige Zustand in einen Moment der (scheinbaren) Bewegungslosigkeit und des (scheinbaren) Stillstands.
Kraft ist die Ursache der Bewegung“, schreibt Rosalia Chladek 1959[28]. Jeder Bewegung liegt demnach immer entweder eine Spannungszunahme oder eine Spannungsabnahme zugrunde und hat eine entsprechende Veränderung des Spannungszustandes im Körper zur Folge. Der bewusste Einsatz der Körperspannung im Körper dient als Ausdrucksmittel. Der Bewegungsverlauf und die vielen Differenzierungsmöglichkeiten des Körpers bestimmen Qualität und Ausdruck der Bewegung. Um diesen funktionellen und logischen Bewegungsverlauf im Körper zu erlangen, arbeitet man zunächst intensiv an der „Durchlässigkeit“ des Körpers.[29]

Lösung Chladek

Abbildung 9 : LINKS OBEN: Zentrale doppelseitige Lösung UNTEN: Einseitige Spannungszunahme (links) UNTEN: Einseitige Spannungsabnahme (rechts)


2.5. Technische Anleitung zum Sturz nach Chladek®: „Von der doppelseitig unterstützten zentralen Lösung über den Ausgleich bis zum Sturz“[30]

Erarbeitung des „Chladek®-Sturzes“ mit Studierenden am Konservatorium Wien[31]:
Schritt 1: „Die doppelseitig unterstützte zentrale Lösung“
-Skizzen anfertigen, selber ausprobieren
-Verbale Bewegungsanweisung, selber ausprobieren
-Fotographie der Übung in den Jahren 2005 und 2009 (Anfang und Ende des Studiums)
-Anleitung und folgerichtigen Bewegungsverlauf aufschreiben
-Übungsprozess: Viele Wiederholungen (Prinzip der Bewegungswiederholung[32]) der Übung in Technikstunden
Schritt 2
: Spannungstagebuch führen „Wie beobachte ich in meinem Körper verschiedene Spannungszustände?“
Schritt 3:
Knieschoner besorgen
Schritt 4: „Chladek-Sturz“

Beispiele für die „Kraftausschaltung“ im Chladek®-System:

Die Abbildungen links oben zeigen eine „lösende Bewegung bis zur Kraftausschaltung bei geschlossener Grundhaltung„.
Die Abbildungen rechts unten zeigen die „Kraftausschaltung aus totaler Aktivität bei offener Grundhaltung„.

Kraftausschaltung Chladek

Abbildung 10 : OBEN: Lösende Bewegung bis zur Kraftausschaltung (geschlossene Grundhaltung) UNTEN: Kraftausschaltung aus totaler Aktivität (offene Grundhaltung)

Die vielen ausführlichen Informationen im Vorfeld der technischen Anleitung zum Sturz spiegeln die Arbeitsweise im Chladek®-System wider.

Gravitation heißt in erster Linie Sturz […]“[33]
In der praktischen Erarbeitung des Chladek®-Sturzes unterscheidet man zunächst zwischen den Bewegungsrichtungen im Körper mit beziehungsweise entgegen der Schwerkraft:

Die Bewegungsrichtung mit der Schwerkraft, „der Weg nach unten“ verläuft im Körper in alle Richtungen („3D“) „wellenartig“. Dieses Bild veranschaulicht das Wechselspiel von beschleunigten und verlangsamten Phasen: Die Körpermasse umspielt die Längsachse. Dadurch kippen die Körperschwerpunkte aus der Achse und in letzter Konsequenz kommt es zum Fall zu Boden.
Hilfestellung in der verbalen Anleitung: „Schwerpunkt nach untenbringen“ indem man das „Zentrum loslässt“ und die „Spannung nachlässt“, dies alles geschieht im „lösen“ – solche verbalen Anleitungen und Vorstellungsbilder, habe ich in diesem Zusammenhang während des Studiums notiert und sollen hier kritisch betrachtet werden.

Die Bewegungsrichtung entgegen der Schwerkraft, „der Weg nach oben“ wird ebenfalls durch Phasen der Beschleunigung und der Verlangsamung gekennzeichnet. Allerdings unterscheiden sich beide Wege durch die jeweilige Bewegungsdynamik. Der Weg nach oben ist zeitlich gesehen etwas kürzer als der Weg nach unten. Im Gegensatz zu letzterem ist beim Weg nach oben, durch eine kontrollierte Spannungszunahme auch ein gleichmäßiger Bewegungsverlauf möglich.

Technische Anleitung „Von der doppelseitig unterstützten zentralen Lösung über den Ausgleich bis zum Sturz“

Die doppelseitig unterstützte zentrale Lösung (Vgl. Abb.9 links oben) beschreibt eine Zusammenfaltung des Körpers bei Spannungsabnahme im Körper von 10 %. Folgende anatomische Körperreaktionen lassen sich dabei beobachten:
–          Wirbelsäule sinkt in sich zusammen
–          Nase bewegt sich räumlich gesehen etwas nach vorne
–          Rippen falten sich um die Längsachse
–          Becken ist flachgestellt
–          leichtes Beugen der Beine
–          bei lockerem Hängen der Arme rollen sich Finger und Ellbogen ein, während diese am  Oberschenkel entlang gleiten
–          beim „Loslassen“ (Spannungsabnahme) steuert der Kopf immer zuerst in die Gegenrichtung: Kopf fällt also etwas nach hinten

Der Ausgleich
Im weiteren Bewegungsverlauf „nach unten“ wird aus der Faltung eine Öffnung im Körper erleb-und sichtbar. Folgende anatomische Körperreaktionen lassen sich hierfür beschreiben:
–          der Körperschwerpunkt wandert nach vor (räumlich)
–          Becken geht tiefer
–          Knie ziehen nach vorne
–          große Beinbeuge
–          Arme rollen aus
–          der Oberkörper gleicht das Gewicht von Becken und Beinen aus: Becken und Beine ziehen nach vorne,
–          Oberkörper und Arme werden nach hinten geschleudert = Öffnung im Körper

Vorklappen des Oberkörpers „Schwebemoment“
–          Knie ziehen noch tiefer nach unten
–          Oberkörper schleudert wieder nach vorne
–          Zehen klappen um, kippen „von selber“ um
–          Schwebemoment: Knie sind fast am Boden, Arme rollen aus und halten „hinten“ für einen kurzen Moment die Balance im Körper
–          OK klappt nach vor
–          Endposition in der Bodenlage

„Der Schwebezustand – die Superposition – das ist der Moment, in dem der Umbruch geschieht, das Gewicht in eine andere Richtung fällt.[34]

Im Chladek®-Sturz kann man dieses Schwebemoment im Körper als eine Gegenrichtung der „Körperschwerpunkte“ und ein Ausbalancieren des Gewichts innerhalb des Körpers erleben.[35]

2.6. Gehen und Fallen
Das bereits erwähnte Wechselspiel von beschleunigten und verlangsamten Phasen in der „Bewegungsrichtung mit der Schwerkraft“ als auch in der „Bewegungsrichtung entgegen der Schwerkraft“ beschreibt Friederike Lampert[36] als ständiges Fallen und Auffangen. Auch Doris Humphrey beschäftigt sich in ihrem Bewegungsprinzip „Fall and Recovery“ mit jenem Spannungswechsel im Körper. In diesem Zusammenhang sei auch auf das „Gehen als fortwährendes Fallen“[37] hingewiesen. Der Mensch besitzt Ausstülpungen in Richtung der Gravitationsfeldlinien und er besitzt Beine, die ihm die Selbstbewegung ermöglichen. Weiters beschreibt Rainer Gruber[38] das Gehen des Menschen als „ein stetes Fallen und Wiedererobern des Gleichgewichts“.

Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit den Worten von Laurie Anderson.

You’re walking. And you don’t always realize it,
but you’re always falling.
With each step you fall forward slightly.
And then catch yourself from falling.
Over and over, you’re falling.
And then catching yourself from falling.
And this is how you can be walking and falling
at the same time.

(Anderson, Laurie: „Walking & Falling“, in: Big Science, Warner Bros. Records 19. April 1982.)

https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=02BIaMBfUc8#t=63

Einflüsse des Chladek®-Systems bis heute

„Beobachtung und Erfahrung haben erwiesen, dass sich die Vielzahl tänzerischer Erscheinungsformen über Rassen, Nationen und Stile hinweg durch die Auffindung und Verwertung der Bewegungsgesetzlichkeit nachvollziehen und neugestalten lässt und damit lehr- und lernbar wird.“                           (Rosalia Chladek, 1991[39])

Das Chladek®-System wird bis heute[40] gelehrt: In Form eines Vollzeitstudiums, an der Konservatorium Wien Privatuniversität, BA Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“, Fachbereich:„Zeitgenössischer Tanz für Tanzpädagogen (nach der Tanztechnik von Rosalia Chladek)“. Studiengangsleiter: Nikolaus Selimov.

Eine berufsbegleitende Ausbildung in Bewegungs- beziehungsweise Tanzpädagogik wird von der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek (IGRC) angeboten.
Die IGRC wird 1972 gegründet, um das Tanzsystem und die Lehrweise Chladek® international bekannt zu machen. Die IGRC hat ihren Sitz in Wien und bildet den Dachverband der fünf ARC Arbeitsgemeinschaften Rosalia Chladek in Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich und der Schweiz. Management IGRC: Martina Haager.

Verwendete Literatur und Quellenangaben:
Die Abbildungen 1 – 6 erscheinen auf der Website der IGRC, http://www.rosalia-chladek.com
Die Abbildungen 7 – 10 erscheinen in:
Alexander, Gerda/Hans Groll: Tänzerin,Choreographin, Pädagogin: Rosalia Chladek, Wien (ÖBV Pädagogischer Verlag) 1975(2.Auflage).

Artus, Hans-Gerd/Maud Paulissen-Kaspar: Tänzerische Körperbildung. Lehrweise Rosalia Chladek, Wilhelmshaven (Florian Noetzel) 1999.

Chladek, Rosalia: „Apologie für den freien Tanz. Antwort auf die Umfrage `Was ist Tanz´”, in: Tanzaktuell, Jg. 6, Nr. 3, Mai/Juni 1991, in: Radrizzani, René: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, Heinrichshofen (Florian Noetzel) 2003.

Gruber, Rainer: „Das Besondere des Fallens. Tanzmoderne, Gravitation und Allgemeine Relativitätstheorie“, in: Brandstetter, Gabriele/Christoph Wulf (Hg.) : Tanz als Anthropologie, München (Wilhelm Fink) 2007, S. 100-118.

Lampert, Friederike: Tanzimprovisation. Geschichte-Theorie-Verfahren-Vermittlung, Bielefeld (transcript) 2007.

Oberzaucher-Schüller, Gunhild/Ingrid Giel: Rosalia Chladek – Klassikerin des bewegten Ausdruck, München (Kieser) 2002.

Radrizzani, René: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, Heinrichshofen (Florian Noetzel) 2003.

„Tanz 20.Jahrhundert in Wien“, Ausstellungskatalog, Österreichisches Theatermuseum, Wien 1979. zitiert in: Radrizzani, René: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, Heinrichshofen (Florian Noetzel) 2003.

Persönliche Mitschriften von Julia Wallner, Studium „Pädagogik für modernen Tanz“ am Konservatorium Wien (2005-2009).

Internetquellen:
IGRC www.rosalia-chladek.com  Letzter Zugriff am 13.04.2014

Konservatorium Wien Privatuniversität, BA Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“: http://www.konservatorium-wien.ac.at/studium/fakultaet-darstellende-kunst/tanz/zeitgenoessische-tanzpaedagogik/  Letzter Zugriff am 13.04.2014

Laurie Anderson: „Walking & Falling“ http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=02BIaMBfUc8#t=63  Letzter Zugriff am 15.04.2014

[1] Tänzerin,Choreographin, Pädagogin: Rosalia Chladek 1905-1995

[2] Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.9.

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. IGRC http://www.rosalia-chladek.com

[5] Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.7-8.

[6] Oberzaucher-Schüller/Giel: Rosalia Chladek, S. 156-159.

[7] Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.30.

[8] Gruber, Rainer: Das Besondere des Fallens. S.109.

[9]Chladek, Rosalia 1979, zitiert in: Tanz 20.Jahrhundert in Wien, Wien 1979.

[10] Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.18.

[11] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[12] Alexander, Gerda/Hans Groll: Rosalia Chladek, 1975. S.95.

[13] Vgl.Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.31.

[14] Ebd.

[15]Radrizzani: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, S.39.

[16] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[17] Artus/Pauslissen-Kasper: Tänzerische Körperbildung, S.154.

[18] Ebd. S.28.

[19]Chladek, Rosalia, in: G. Alexander (Hrsg.): Eutonie, Ulm 1964.

[20]Die “zentrale Lösung” entsteht durch eine Spannungsabnahme von ca. 10% im Körper. Siehe Kapitel 2.5.

[21]Radrizzani: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, S.28.

[22]Ebd. S. 40.

[23] Ebd. S. 29

[24] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[25]Radrizzani: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, S.40.

[26] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[27]Radrizzani: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, S.40.

[28] Alexander, Gerda/Hans Groll: Rosalia Chladek, 1975. S.95.

[29] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[30] Ebd.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Artus/Pauslissen-Kasper:Tänzerische Körperbildung

[33] Gruber, Rainer: Das Besondere des Fallens. S.102.

[34]Lampert, Friederike: Tanzimprovisation. S.136.

[35] Wallner: Mitschriften 2005-2009.

[36] Lampert, Friederike: Tanzimprovisation. S.137.

[37] Brandstetter,Gabriele, zitiert in: Lampert, Friederike: Tanzimprovisation. S.136.

[38] Gruber, Rainer: Das Besondere des Fallens. S.100.

[39]Radrizzani: Rosalia Chladek. Schriften Interviews, S.29.

[40]Stand April 2014.

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